Öffentliche Bauten

Waisenhaus Winterthur

Das Waisenhaus in Winterthur steht seit rund 350 Jahren unter städtischer Trägerschaft. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts lebten die Waisenkinder zusammen mit bedürftigen Erwachsenen im «Unteren Spital» (heutiges Alterszentrum am Neumarkt). 1835 wurde das erste reine Waisenhaus im alten Amtshaus am Untertor eingerichtet. 1876–1951 war das Waisenhaus an der Tösstalstrasse 48 stationiert, 1951 zog es in den Neubau an der Pestalozzistrasse 21 in Oberwinterthur und wurde 1982 zum Kinder- und Jugendheim Oberi umbenannt.


Gründungsdatum
04.07.1676


Im «Unteren Spital» waren Waisenkinder bis 1835 zusammen mit armen, kranken, geistig beeinträchtigten und verbrecherischen Erwachsenen untergebracht , Spitalgasse 6 / 8, heutiges Alterszentrum Neumarkt. Aufnahme1992. 
Foto: winbib (Signatur 023008)

Städtische Waisenstube im «Unteren Spital»

Die älteste urkundliche Erwähnung der Versorgung von Waisen in der städtischen Waisenstube im «Unteren Spital» am Neumarkt 8 (heutiges Alterszentrum am Neumarkt) stammt aus dem Jahr 1676. Im 17. Jahrhundert wurden alle Kinder als Waisen bezeichnet, die elternlos waren, arm oder unehelich und nicht von Verwandten versorgt werden konnten. Im «Unteren Spital», der einzigen sozialen Einrichtung der Stadt zu dieser Zeit, lebten die Kinder bis Anfang des 19. Jh. mit alten, kranken, geistig beeinträchtigten, verbrecherischen und durchreisenden Erwachsenen zusammen.

Genau wie alle «Muspfründer» im «Unteren Spital», mussten auch die Kinder für ihr tägliches Brot und Mus arbeiten. Beaufsichtigt wurden alle Insassen des «Unteren Spitals» durch eine Zuchtmutter, später durch einen Zuchtvater. Die erste protokollarisch erwähnte Zuchtmutter von 1668–1676, war Elisabetha Schrämlin. Ihre Führung gab immer wieder Anlass zu Klagen, worauf der Rat von Winterthur 1676 eine erste Waisenhausordnung erliess. Diese liest sich in erster Linie als Ermahnung der Zuchtmutter, sich nicht am Essen der Kinder zu bereichern und den Kindern fleissiges Beten beizubringen. Auch unter den nächsten beiden Zuchtmüttern, den Witwen Elisabeth Ernstin und Magdalena Hagenbuch, scheint sich wenig verändert zu haben.  Ab 1690 wurden ausschliesslich Zuchtväter angestellt, deren Ehefrauen gleichsam zur Mitarbeit verpflichtet wurden. Bis 1861 waren alle Zuchtväter ehemalige Handwerker im fortgeschrittenen Alter, die diese Anstellung wohl vor allem darum suchten, da sie mit Kost und Logis entschädigt wurde.

Von der Waisenstube zum Waisenhaus

Untersuchungen des Stadtrates in den Jahren 1793 und 1802 ergaben, dass das gemeinsame Zusammenleben von Kindern und Erwachsenen einer der Hauptgründe für die schlechten Verhältnisse in der Waisenstube seien. 1806 wurde deshalb das «Untere Spital» umgebaut, sodass eine räumliche Trennung der Kinder von den Erwachsenen möglich wurde. 1835 erwarb der Stadtrat von der Kantonsregierung das ehemalige Amtshaus am Untertor und richtete dort das erste eigentliche Waisenhaus ein. Mit der neu eingesetzten Waisenhauspflege und der neuen Hausordnung von 1835 wurde eine Neuorientierung der Waisenversorgung vollzogen. Der Auftrag des neuen «Waisenvaters» grenzte sich klar von demjenigen der früheren Zuchtväter ab.

Auf dem Weg zu einer pädagogischen Einrichtung

Mit der Berufung von Heinrich Morf (1818–1899) im Jahr 1861 bekam das Waisenhaus zum ersten Mal ein Waisenvater mit pädagogischer Ausbildung. Morf führte in seiner Zeit als Waisenvater von 1861–1893, zeitgemässe Erziehungsansätze ein und organisierte das Waisenhaus neu. 1876 zog das Waisenhaus an die Tösstalstrasse 48 um, wo es bis 1951 blieb. 

1935 beschloss der Gemeinderat, den Waisenhausbetrieb einzustellen und stattdessen die Privatpflege zu fördern, was eine Grundsatzdiskussion über die Vor- und Nachteile der Heim- bzw. Familienversorgung auslöste. In der Volksabstimmung vom 8. Dezember 1946 stimmten die Stimmbürger für den Kredit für einen Neubau in Oberwinterthur und damit für die Weiterführung des Waisenhauses. Das neue Waisenhaus an der Pestalozzistrasse 21 in Oberwinterthur konnte 1951 eingeweiht werden. Hier gab es Platz für bis zu 48 Kinder, die noch strikt in geschlechter- und altersgetrennten Gruppen  organisiert wurden.

Professionalisierung der Heimerziehung

Seit 1861 verfügten die Heimleiter im Waisenhaus zwar jeweils über eine Lehrerausbildung, nicht aber über eine spezifische in Heimerziehung oder Sozialer Arbeit, noch brachten sie Erfahrungen aus diesem Bereich mit. Dasselbe galt für die weiteren Angestellten im Waisenhaus. Immer wieder gab es Klagen über deren Führungs- und Erziehungsmethoden, etwa von Müttern der untergebrachten Kinder. Eigentliche Waisen gab es Mitte des 20. Jahrhunderts kaum mehr. Obwohl Körperstrafen in der Familienerziehung in den 1950er Jahren noch nicht strafbar waren, tolerierte der Stadtrat solche im Waisenhaus nicht mehr. Hingegen erachtete er Arbeit noch immer als das wichtigste Erziehungsmittel.

Eine wesentliche Änderung in der Heimleitung und der Ausgestaltung des Heimes erfolgte ab Ende der 1960er Jahre. 1967 wurde erstmals ein Heimleiter angestellt, der eine Ausbildung und Erfahrung in der Heimerziehung mitbrachte. Er setzte sich nicht nur für eine psychologische und psychiatrische Begleitung der Kinder ein, sondern er bemühte sich auch um ein neues Heimkonzept. Personalmangel und Sparmassnahmen verzögerten zwar die Umsetzung. Dennoch bot das Konzept von 1982 die Grundlage zur Umsetzung eines neuen Familien- bzw. Kleingruppensystems, zum stärkeren Einbezug der Eltern der Kinder und zu einer neuen individualisierten Pädagogik. Erstmals in der Geschichte des Waisenhauses wurde ausschliesslich qualifiziertes Personal angestellt und der Heimleiter wohnte nicht mehr auf dem Areal. Mit der Integration der Funktionen des Kinderheims Büel (1947-1984 in der Villa Büel an der Büelrainstrasse 16) 1984, wurde das Angebot auf Vorschulkinder erweitert und der Name in Kinder- und Jugendheim Oberi geändert.  Dank der Renovation und dem Umbau der Gebäude 1984 wurden zudem die räumlichen Voraussetzung zur Umsetzung der neuen Prinzipien geschaffen.

Heute bietet das Kinder- und Jugendheim Oberi 32 Plätze für Kinder und Jugendliche in drei alters- und geschlechtergemischten und einer Jugendwohngruppe. Die Kinder werden durch sozialpädagogisch qualifiziertes Fachpersonal im Bezugspersonensystem betreut, gefördert und erzogen. Die Kinder und Jugendlichen besuchen die öffentliche Schule.


Benutzte und weiterführende Literatur

Bombach, Clara; Gabriel, Thomas; Keller, Samuel; Ramsauer, Nadja; Staiger Marx, Alessandra: Zusammen alleine. Alltag in Winterthurer Kinder- und Jugendheimen 1950-1990. In: Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Winterthur, Band 354, Winterthur 2017. 
Sassnick Spohn, Frauke: Der „Neumarkt“ – Schauplatz der Winterthurer Sozialgeschichte. Vom Spital zum Alterszentrum. Herausgegeben von: Stadt Winterthur, Departement Soziales, Winterthur 2002.
Morf, Heinrich: Aus der Geschichte des Waisenhauses Winterthur. In: Neujahrsblatt der Hülfsgesellschaft Winterthur, Winterthur 1871.

Autor/In:
Mirjam Staub
Letzte
Bearbeitung:
19.12.2023