Siedlungen

Selbsthilfe-Kolonie (Siedlung Eigenheim)

Eigenheimweg

Die Selbsthilfe-Kolonie im Geiselweidquartier gehört zu den wichtigsten Kleinhaus-Siedlungen im Kanton Zürich. Als historisches Baudenkmal steht sie beispielhaft für die schweizweiten Bemühungen zur Bekämpfung der Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg.


Baujahr
1925–1929


Die Bezeichnung der Siedlung leitet sich vom Konzept der Selbsthilfe ab, das nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und Österreich erstmals angewendet wurde. Um finanziell schwach gestellten Familien ein Eigenheim zu ermöglichen, wurden die künftigen Hausbesitzer bei den Bauarbeiten direkt einbezogen. So konnten 10% der Baukosten eingespart werden. Aufnahme der ersten Baugruppe von 1925.
Foto: winbib  (Signatur FotKellm_001-005i)

Sich selbst am Hausbau beteiligen

Die «Selbsthilfe-Kolonie» resp. «Siedlung Eigenheim» wurde zwischen 1925 und 1929 nach den Plänen von Adolf Kellermüller und Franz Scheibler errichtet. Als Architektenteam gehörten sie zu den wichtigsten Wohnbaureformern der Zwischenkriegszeit in Zürich. Die Siedlung befindet sich auf einem grossen Grundstück zwischen der Eulach und dem Oberen Deutweg im Geiselweidquartier. Sie wird flankiert vom Freibad Geiselweid und von der Sportanlage Deutweg. Zum Zeitpunkt ihrer Entstehung war das Areal mit Ausnahme von Industriebauten weitgehend noch unbebaut. Die beiden Architekten konnten das rund 15'000 Quadratmeter grosse Land im Rahmen der Wohnbauförderung günstig von der Stadt Winterthur abkaufen und traten somit auch als Bauherren auf. 

Bei der Grossiedlung handelt es sich vermutlich um die Schweizweit erste Umsetzung des nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und Österreich entwickelten Selbsthilfe-Prinzips. Weil im Zuge des Krieges viele Menschen ihr gesamtes Vermögen verloren hatten und sich kein Eigenheim leisten konnten, entstand aus der Not heraus die Idee, sie direkt an den Bauarbeiten zu beteiligen. In Deutschland und Österreich konnten damit zum Teil bis zu 50% der Baukosten eingespart werden.

Die Situation in der Schweiz war zwar deutlich weniger prekär als in den kriegsversehrten Nachbarstaaten, dennoch mussten auch Scheibler und Kellermüller feststellen, dass die von ihnen als Zielgruppe ins Auge gefassten Handwerkerfamilien finanziell nicht in der Lage waren, sich ein Eigenheim zu leisten. Um die Kosten zu senken, mussten sich die Interessenten dazu verpflichten 10% Eigenleistung aufzubringen.  Zu den selbstgeleisteten Arbeiten gehörten unter anderem: Strassen- und Wegbau, Ausheben des Fundamentes, Verputzen und Weisselung des Mauerwerks, Verlegen der Zimmerböden, Mithilfe beim Anlegen des Gartens und bei den Gipserarbeiten sowie das Streichen der Wände. Die Eigenheimbesitzer standen jeweils Werktags von 18:00 bis 21:00 und an den Samstagen von 13:00 bis 19:00 im Einsatz. Von ihnen getrennt arbeiteten die beauftragen Firmen an der Siedlung. Sie führten die komplexeren Arbeiten durch und erstellten auch alle Zweifamilienhäuser.

Weitere finanzielle Zuwendungen erfuhr die Siedlung in Form von Subventionen vom Kanton Zürich und der Stadt Winterthur. Ebenfalls wurde sie vom Schweizerischen Verband zur Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus im Rahmen der «Musterhaus-Aktion» grosszügig finanziell unterstützt. Mit der «Selbsthilfe-Kolonie» sollte die damals vorherrschende Wohnungsnot wirkungsvoll bekämpft werden. Für die Umsetzung wurde eine Baugenossenschaft gegründet, wobei die einzelnen Häuser nach der Fertigstellung dann per Losverfahren den einzelnen Hausbesitzern zugewiesen wurde. Es entstanden günstige Wohnstätten für kinderreiche Handwerkerfamilien. Strassennamen wie «Glaserweg», «Maurerweg» und «Hafnerweg» verweisen auf die ursprünglichen Bewohnenden. 

Kinder- und Hausfrauenfreundliche Bauweise

Die Grosssiedlung gliedert sich in zwei Baugruppen und umfasst 90 zweigeschossige Einfamilienhäuser sowie 28 Zweifamilienhäuser, die orthogonal in 15 unterschiedlich langen Reihen angeordnet sind. Während gewisse Baumassnahmen, wie beispielsweise das spiegelbildliche Zusammenfassen zweier Einfamilienhäusern zu einem Paar in Winterthur üblich waren, stellen die bündig zur Aussenfassade anschliessenden Dächer und der Einbau sogenannten Zargenfenstern eine Besonderheit dar, die in ihrer Zeit in der Region etwas befremdlich wirkten. Sie verweisen auf den Einfluss von Heinrich Tessenow, für den Franz Scheibler von 1921 bis 1923 als Meisterschüler gearbeitet hatte.

Die Anlage der Siedlung mit ihren ursprünglich einheitlich gestalteten Gärten sowie einem Kindergarten und Quartierladen im Zentrum, entspricht den Grundsätzen der Gartenstadtbewegung, die in Winterthur stark ausgeprägt war. Die aus Backsteinen gemauerten Häuschen haben einen beinahe quadratischen Grundriss und verfügten über einen Keller und eine Waschküche mit Badegelegenheit. Im Erdgeschoss war die Wohnstube und kleine Kücher untergebracht, während das Obergeschoss über zwei Schlafzimmer und ein Bad verfügte. Im Dachstock befand sich eine weitere Schalfkammer. Aus Rücksicht auf die Kinder und vor allem auch die Hausfrauen, wurden die Küchen zugunsten einer grosszügigeren Wohnstube möglichst klein gehalten «um der Hausfrau grosse Arbeit zu ersparen, ihr aber gleichzeitig auch zu einem gesunden und freundlichen Tagesleben in der Stube zu verhelfen» wie die Architekten in ihrem Artikel über das «Kleinhaus» schrieben.  Hinzu kam ein 150 Quadratmeter umfassendes Gartenland auf der Hofseite, das zur Selbstversorgung diente.

Ein bedeutendes Baudenkmal

Mit der Einführung der Sonderbauvorschriften wurden 1986 in Winterthur insgesamt 14 Siedlungen unter Denkmalschutz gestellt. Die Selbsthilfe-Kolonie ist eine davon. Für die getroffenen Massnahmen zum Schutz und Erhalt der historischen Bausubstanz aus dem 19. und 20. Jahrhundert erhielt die Stadt Winterthur 1989 den Wakkerpreis. 


Benutzte und weiterführende Literatur:

Garcia, Miguel: Der Stadtkreis Mattenbach – ein Experimentierfeld, in: Geburtsstunde einer Grossstadt. Hundert Jahre Winterthurer Eingemeindung (Neujahrsblatt der Stadt Winterthur Band 360), Zürich 2022, S. 110.
Garcia, Miguel/Westermann, Reto: Am Rand und doch mitten in der Stadt. Das Geiselweidquartier (Winterthurer Bau-Geschichten Bd. 4), Winterthur 2019.
Michel, Regula/Osoegawa, Steffen: «Selbsthilfe-Kolonie», in: Inventar der Denkmalschutzobjekte von überkommunaler Bedeutung, Stadt Winterthur, Band 1, 2018, S. 25–32.
Kellermüller, Adolf/Scheibler, Franz: Das Kleinhaus. Die «Selbsthilfe»-Kolonie in Winterthur, in: Schweizerische Zeitschrift für Wohnungswesen, 1. Jahrgang, Heft 3, März 1926, S. 22–25.
Kellermüller, Adolf: Die «Selbsthilfe-Kolonie» in Winterthur, 1. Jahrgang, Heft 10, Oktober 1926, S. 147–149.

Bibliografie


Autor/In:
Nadia Pettannice
Letzte
Bearbeitung:
13.01.2024